TINAs ART&weise
„There’s a crack in everything. That’s where the light comes in.“
Leonard Cohen
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frozen lake • acrylics, canvas • 70 x 70 • 2021
tinaringe.de
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Introspektion. Das Licht im Dunkel
Dezember. Auf der Zielgeraden des Jahres. Die lichtreichen Monate sind endgültig vorbei. Die Tierwelt hat sich in den Winterschlaf zurückgezogen oder auf den Weg gen Süden gemacht. In der Natur kehrt Ruhe ein. Gestern habe ich um 16 Uhr die Gardinen zugezogen. Draußen schon am Nachmittag stockdunkle Nacht. Und auch davor mochte es nicht so recht hell werden. Die Monate des Dämmerlichts sind da. Noch haben wir die Weihnachtsmärkte und unsere alljährlichen Jahresendbesorgungen, die uns zerstreuen und in Atem halten. Aber halten wir einen Moment inne und schauen aus dem Fenster, sehen wir, zumindest im Norden, meist nicht viel anderes als einen grauen Schleier in wechselnden Schattierungen, durchmischt mit kaltem Nieselregen oder, mit Glück etwas romantischer, so wie bei mir heute früh, die ersten Schneeflocken, wie sie noch recht zaghaft in Richtung Erde rieseln.
Es ist Zeit das Leben nach innen zu verlegen. Dorthin wo es warm und heimelig ist. Wo wir uns sicher fühlen. Und auch eine Zeit, um den Blick nach innen zu richten, das Jahr Revue passieren zu lassen. Was hat es gebracht, an neuen Erfahrungen, an Gutem wie auch an weniger Angenehmem? Dieses Jahr 2022 hat da ganz sicher für jeden genug zu bieten. Langweilig war es nicht. Nimmt man die politische Großwetterlage noch dazu, war es bewegter als jedes Jahr zuvor.
Ich weiß nicht, wie es dir geht. Mir erscheint die Welt in diesem Jahr, als hätte sie endgültig einen tiefen Riss bekommen. Einige Krisen liegen schon hinter uns. Bewusst haben wir 09/11 erlebt, dann die große Migrationswelle 2015 und schließlich die Covid19-Pandemie, die Anfang 2020 zu uns herübergeschwappt ist. Von den kleineren Erschütterungen zwischendurch ganz zu schweigen. Aber was die Welt seit Februar in Atem hält, fühlt sich für mich nach einem - noch - größeren Bruch an. Eine Weltlage, die mich ratlos macht. Kommt dir das bekannt vor?
Sehr gern erinnere ich mich an einen Spaziergang im vergangenen Coronawinter 2021. Das Wetter war herrlich, die Welt verschneit, die Temperaturen stramm unter null und der Park, in dem ich im knirschenden Schnee unterwegs war, lag ganz still und friedlich da an diesem frühen Sonntagmorgen. Vor mir tat sich der See auf, dessen Wasser der Nachtfrost in eine spiegelglatte Eisfläche verwandelt hatte. Genau in dem Moment, als ich an den See trat, gaben die kahlen Bäume auf der anderen Seite den Blick auf das helle Rot der gerade aufgehenden Sonne frei.
„There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.“ singt der 2016 verstorbene Sänger Leonard Cohen in seinem Stück Anthem.
An der aktuellen Weltlage gibt es nichts schönzureden. Das war schonmal besser. Aber dieses Bild von Leonard Cohen hilft mir. Der Riss, der jedes Ding durchzieht und so das Licht ins dunkle Innere dringen lässt. In jedes Ding - und ebenso in jede Situation.
Das heißt, so dunkel und zerbrochen es sich auch anfühlen mag, so gibt es doch immer noch einen Lichtschein, der gerade dank dieses Bruchs ins Innere scheinen kann und das Dunkel erleuchtet. Oder die Sonne, die die klirrende Kälte durchbricht und einen warmen Schleier auf dem gefrorenen See ausbreitet. Den wunderbaren, fast magischen Moment dieser Transformation habe ich in meinem Bild frozen lake auf Leinwand festgehalten.
Transformation - nicht schlechter, nur anders. Kintsugi und Wabi-Sabi
Die Japaner haben aus der Transformation eine eigene Kunstform erschaffen, das Kintsugi. Eine zerbrochene Schale, die wir als kaputt und reif für die Mülltonne betrachten, wird durch die Kunst des Kintsugi in einem liebevollen Reparatur- und Transformationsprozess in einen noch kostbareren Gegenstand verwandelt.
Kintsugi ist eine von langer Tradition geprägte Methode zur kunstvollen Reparatur zerbrochener Keramik mit Ursprung im 15. Jahrhundert. Der Name setzt sich aus den japanischen Wörtern für Gold (kin) und Verbindung (tsugi) zusammen. Das Besondere: Kintsugi versucht nicht, die augenscheinlichen Makel zu verbergen, sondern stellt vielmehr diese in verschönerter Form in den Vordergrund. Die zerbrochene Teile werden unter Verwendung von Gold- und Silberpigmenten an den Bruchstellen wieder zusammengesetzt. Auf diese Weise schafft Kintsugi eine völlig neue Schönheit und Wertschätzung des ursprünglichen Objekts.
Wir werden ermuntert, die Schönheit des Nicht-Perfekten, Authentischen und Atypischen zu entdecken - mit anderen Worten: die Schönheit des „echten Lebens“, so wie es wirklich ist. Im Japanischen gibt es für diese ästhetische Wertschätzung von Fehlerhaftigkeit sogar einen Begriff: Wabi-Sabi. Kintsugi ist Ausdruck dieses Konzepts.
…und was hat Kintsugi mit unserer Seele zu tun?
Kintsugi verlangt Geduld und Konzentration. Über Wochen und manchmal Monate wird der zerbrochene Gegenstand behutsam instand gesetzt. Der Reparaturprozess in sechs Schritten lässt sich mit dem Heilungsprozess der Seele nach einer Krise vergleichen.
- Im ersten Schritt schauen wir uns das Zerbrechen an. Wir sammeln die Scherben auf und geben ihnen eine zweite Chance.
- Im zweiten Schritt, dem Zusammenfügen, puzzeln wir die zerbrochenen Stücke zusammen und kleben sie.
- Im dritten Schritt lernen wir, uns zu gedulden, bis die Bruchstellen ausgehärtet sind.
- Dann geht es im vierten Schritt an das Reparieren. Die Bruchstellen werden geglättet und lackiert.
- Im fünften Schritt folgt das Aufdecken und Akzentuieren der Narben. Hier wird Goldstaub auf den noch nassen Lack aufgetragen und später zum Glänzen gebracht.
- Und zu guter Letzt bewundern wir nicht nur das reparierte Objekt, sondern auch unsere neu gewonnene Stärke.
Ausgangspunkt des Reparaturprozesses ist das Erleiden. Etwas geht zu Bruch. So wie die Tasse in Stücke zersprungen am Boden liegt, fühlen auch wir uns, wenn wir eine tief greifende Verletzung erleiden. Das Gefühl, dass nichts mehr so sein wird, wie es war, stimmt. Wir müssen akzeptieren, dass Geschehenes sich nicht rückgängig machen lässt. Schmerzhafte Erfahrungen machen uns zu einem anderen Menschen, ebenso wie eine zersprungene Tasse nicht mehr in ihren Originalzustand gebracht werden kann. Doch vielleicht ist das gut so?
Wenn du beschließt, dein Leben trotz aller Ängste, Rückschläge und Verletzungen selbst in die Hand zu nehmen, machst du dir das kostbarste Geschenk überhaupt: Du schenkst dir Selbstachtung und Wertschätzung. So wie wir die zerbrochene Tasse als so wertvoll betrachten, dass wir sie aufwendig reparieren wollen, anstatt sie einfach wegzuwerfen, können wir uns auch entscheiden, uns liebevoll selbst zu umsorgen.
Tipp:
Mach es wie der Kintsugi-Meister. Er visualisiert den zerbrochenen Gegenstand im geheilten Zustand, bevor er mit der Reparatur loslegt. Nimm diesen Arbeitsschritt und benutze ihn als Metapher für das Leben: Was für ein Mensch möchtest du sein? Was für ein Leben führen? Wie soll die Welt rund um dich herum aussehen?
Kintsugi lehrt uns Selbstwirksamkeit. Die wichtige Fähigkeit und Erkenntnis, selber Einfluss auf die Dinge nehmen und die Zukunft damit in die gewünschte Richtung bewegen zu können. Wer mehr über die Technik erfahren möchte - und ebenso über die Anwendung auf das eigene Leben, dem lege ich das Buch Caline Santini „ KINTSUGI: Wie uns Bruchstellen im Leben stark machen - Der japanische Weg zur Resilienz“ ans Herz. Gerade in unserer um-Bruch-reichen Zeit eine bereichernde Lektüre. Und vielleicht sogar das passende Weihnachtsgeschenk :)
Im letzten Mittagsimpuls dieses Jahres von TINAs ART&weise am 29.12.2022 wollen wir uns zum Thema Licht im Dunkel austauschen. Wie gehst du mit Rissen und Brüchen aller Art um? Und was ist dein Trick, um in düsteren Zeiten und Lebenslagen neuen Mut zu schöpfen?
Ich freue mich wie immer auf interessierte GesprächspartnerInnen und inspirierende Impulse.
Anmeldungen bitte direkt an: rathgen@consultingforlegals.com
Der Link wird dann zugeschickt.
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Quellen:
tinaringe.de . frozen lake . acrylics, canvas . 70 x 70 . 2021
KINTSUGI: Wie uns Bruchstellen im Leben stark machen - Der japanische Weg zur Resilienz . Kailash Verlag