TINAs ART&weise
„Es scheint mir so zu sein, dass alles im Leben polar aufgebaut ist. Es gibt nicht nur Freude, es git auch Ärger. Es gibt nicht nur Lust, es gibt auch Schmerz.“
Wilhelm Schmid
Prof. Dr. Wilhelm Schmid lehrt als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Universität Erfurt. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Das Leben verstehen“ (Suhrkamp Verlag, 2016) und „Selbstfreundschaft: Wie das Leben leichter wird“ (Insel Verlag, 2. Auflage, 2018).
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sossusvlei . acryl, pastell, canvas . 50x120 . 2019
Dankbarkeit und das Glück der Fülle
November. Fast sind wir am Ende des Jahres angekommen. Landläufig genießt der November in unseren Breiten nicht den besten Ruf. Die meisten Bäume sind schon kahl, der Himmel meist grau, das Wetter kühl und regnerisch. Nach dem goldenen Oktober der trübe November. Das Bild, das ich für den November ausgesucht habe, setzt zumindest dem winterlichen Grau etwas entgegen. Es zeigt die endlosen majestätischen Sanddünen im meist sonnendurchfluteten namibianischen Sossusvlei. Liebe LeserInnen, vielleicht fragen Sie sich jetzt aber trotzdem, ob es hier eine Verwechslung gab - was hat dieses Motiv mit dem Monatsmotto zu tun: „Dankbarkeit und das Glück der Fülle“? - Für Kargheit dankbar sein? Und wo steckt denn hier die Fülle?
Und so kommen wir auf direktem Wege zur Frage aller Fragen: Was ist eigentlich Glück?
Und daran anknüpfend die Frage nach der Dankbarkeit: Wofür können, dürfen und sollten wir dankbar sein?
Mit dem Jahresende kommt für viele auch der Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen, beruflich sowie privat. Was hat das Jahr gebracht - an Gutem und an weniger Gutem. Erfolge, Erlebnisse, Begegnungen, Schönes und auch Schlechtes - oder das, was wir gemeinhin als schlecht definieren, so wie Niederlagen, Krankheiten, Verluste, Abschiede. Und auch hier wird es wieder philosophisch: Was ist eigentlich „gut“? Und was „schlecht“? Wie definieren wir unsere Bewertung? Welchen Maßstab setzen wir an?
Für das Glück als solches gibt es keine allgemeinverbindliche Definition. Was darunter zu verstehen ist, legt letztlich das jeweilige Individuum für sich selbst fest. Philosophisch hat sich
der Philosophieprofessor und Autor Wilhelm Schmid, dem Thema angenähert.
Er unterscheidet beim Glück drei Grundtypen:
das Zufallsglück, das Wohlfühlglück und schließlich das Glück der Fülle.
Das Zufallsglück
Das vom althochdeutschen Begriff „gelücke“ abgeleitete Wort „Glück“ ist eng mit dem Schicksal verwandt und damit mehr vom Zufall geprägt als durch die Verfügbarkeit. Menschen brauchen viel von diesem Glück, haben es jedoch nicht in der Hand, es zu beeinflussen. Wesentlich an diesem Glück ist seine Unverfügbarkeit. Verfügbar ist im Gegensatz dazu aber die Haltung, die ich als Individuum dem Schicksal und Zufall gegebenüber einnehme: Ich kann mich ihm verschließen - oder aber offen dafür sein.
Offenheit beflügelt das Zufallsglück. Mit Vorliebe macht es dort Station, wo es sich gut aufgehoben fühlt - und nicht noch Vorwürfe zu hören bekommt, dass es jetzt nicht passt. Dabei wird wohl ungeklärt bleiben, ob eine ordnende Hand dahintersteckt und ob es so kommt, wie es eben kommen muss.
Und Achtung: Wer glaubt, mit einem günstigen Zufall sei alles schon gelaufen, irrt sich. Entscheidend ist immer, was wir aktiv daraus machen.
Das Wohlfühlglück
Heutzutage wird der Begriff des Glücks zunehmend mit dem Angenehmen gleichgesetzt: mit Lüsten, guten Empfindungen und Wohlgefühl. Das so definierte Wohlfühlglück hält glückliche Augenblicke bereit, für die ein Mensch sich nicht nur offen halten, sondern die er vielmehr auch selbst herbeiführen kann. Es liegt in unserer Hand, Situationen zu suchen, um derentwillen das Leben sich lohnt und die sich nahezu jeden Tag finden lassen. Wichtig dafür ist nur zu wissen, was einem selbst und anderen gut tut, um sich dann darum zu kümmern: eine Tasse Kaffee, ein Gespräch, ein Kinobesuch …
Es käme aber darauf an, nicht das gesamte Leben dieser Art Glück unterzuordnen - nur um dann bitter enttäuscht zu sein, wenn nicht alles jederzeit lustvoll ist. Vor allem in der Liebe kann dies zum Problem werden: mit dem anderen immer nur glücklich sein zu wollen im Sinne dieses Wohlfühlglücks, geht an der Realität des Lebens vorbei. Das Leben kann nicht ständig nur aus Wohlgefühl bestehen und auch nicht nur aus immerwährender Zufriedenheit. Das Wohlfühlglück dürfen wir anstreben und genießen. Vielmehr müssen wir aber lernen, unsere Zufriedenheit nicht zu sehr von seiner Präsenz abhängig zu machen.
Und schließlich: Warum wollen wir uns die Motivationsquelle der Unzufriedenheit versagen? Große Leistungen der Menschheit gingen oft gerade nicht aus einer Situation der Zufriedenheit hervor.
Deshalb: Bitte nicht immer nur zufrieden sein! Das führt zur Lethargie, in der Beziehung und auch im Beruf.
Das eigentliche Glück ist sowieso noch ein anderes.
Das Glück der Fülle - das große „Ja“ zum Leben
Es ist das philosophische Glück, nicht abhängig von bloßen Zufällen und momentanen Gefühlen, vielmehr eine Balance in aller Gegensätzlichkeit des Lebens, nicht immer in jedem Augenblick, dafür aber auf lange Sicht, durch das ganze Leben hindurch.
Wie aber erreichen wir dieses „Glück der Fülle“?
Ganz in der Hand eines jeden Einzelnen gelegen, ist es eine Frage der bewussten Haltung zum Leben, ein Einverstandensein mit dem Leben in all seiner Gegensätzlichkeit: denn Leben ist nicht nur Gelingen, sondern auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz; nicht nur Zufriedenheit, auch Unzufriedenheit; nicht nur Tun, auch Lassen; nicht nur Glücklichen im landläufigen Sinn, sondern eben auch das Unglücklichsein ist von dieser ganzheitlichen Fülle des Lebens umfasst.
Und so erreichen wir das Glück der Fülle am ehesten durch eine Haltung der Heiterkeit und Gelassenheit – eine Art Grundstimmung, die das Leben auch dann trägt, wenn es schwierig wird. Keine der genannten Ebenen – Zufallsebene, Gefühlsebene, geistige Ebene – ist verzichtbar, alle spielen zusammen. Dieses dritte Glück aber, das große „Ja!“ zum Leben mit allen seinen Sonnen- und auch Schattenmomenten, das bei vielen von uns etwas in Vergessenheit geraten ist, gilt es wieder zu entdecken. Es ist das einzige, das bleibt.
Festhalten lässt sich, was wie eine abgedroschene Phrase klingt - und dabei doch so wahr ist: Es ist eine Frage der Perspektive, auch mit dem Glück. In jeder Situation sollten wir uns darüber klar sein, dass es immer auch andere Perspektiven gibt als diejenige, mit der wir gerade auf die Sache blicken.
Denken wir an ein bekanntes Gefühl: Wenn man sich verliebt, verändert sich die Welt. Für mich. Und wenn ich diese Liebe wieder verliere, verwandelt sie sich erneut. Für mich. - Was sagt das nun über die Welt aus? War die Welt tatsächlich objektiv so anders, so verheißungsvoll und rosarot? Oder war nur mein subjektiver Blick auf sie verändert? Niemand würde sagen: Die Welt war anders. Denn was schert sich die Welt um mein persönliches Glück oder Unglück? Es hängt also von der Perspektive ab, mit der wir auf die Welt schauen. Machen wir uns bewußt, dass unsere je eigene Perspektive auf die Welt nicht die einzig mögliche ist, befähigen wir uns dazu, immer mehr in den Dingen zu vermuten, als wir im Moment wahrnehmen können. Haben wir uns diese Fähigkeit erst einmal zu eigen gemacht, werden wir nicht mehr so schnell in die Sackgassen des Fühlens und Denkens geraten.
Fülle und Sinn
Mit dem Grundgefühl der Fülle - im Gegensatz zu einem in unseren modernen Wohlstandsgesellschaften weit verbreiteten Leeregefühl - ist auch die Frage nach dem Sinn eng verbunden. Ein erfülltes Lebensgefühl geht oft mit Sinn einher, eine völlige Leere mit dem Gegenteil. Haben Menschen einen Sinn vor Augen, können sie vieles durchstehen und bewältigen, ohne Sinn dagegen kaum etwas. Ohne Sinn werden Kräfte zunichte und die Menschen brennen aus: So ist Sinnlosigkeit erwiesenermaßen einer der wichtigsten Gründe für Burnout. Die beste Burnout-Prophylaxe ist entsprechend: die Frage nach dem Sinn ernstzunehmen. Und die beste Therapie: an der Wiederherstellung von Sinn zu arbeiten und sich so unabhängig davon zu machen, ob man im Leben aktuell gerade Glück erfährt oder nicht.
Sinn und Dankbarkeit
Die indigene US-amerikanische Professorin Robin Wall Kimmerer plädiert in ihrem Essay „Dankbarkeit“ (im Original „Returning the Gift“ aus der Serie „Questions for a Resident Future“), für eine Rückkehr zur Grundhaltung ihrer indianischen Vorfahren: Diese hatten einen holistischen Blick auf Erde und Natur. Bei allem, was sie der Natur entnahmen, fragten sie sich: Was möchte die Erde dafür von uns zurückbekommen? Hierin kommt eine Gegenseitigkeit zum Ausdruck, die in unserer konsumorientierten Grundhaltung nicht mehr vorhanden ist: das Streben nach einem Nehmen und Zurückgeben, um auf diese Weise das große Gleichgewicht zu bewahren.
Was Robin W. Kimmerer auf die Natur bezieht, lässt sich auch auf die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Ebene übertragen. Besitzen wir eine Gabe, ist daran natürlicherweise gekoppelt, diese Gabe zum Wohle aller einzusetzen. Hierin kommt die Dankbarkeit zum Ausdruck, die wir für das Geschenk empfinden sollten, dass uns diese Gabe in die Wiege gelegt wurde. Jeder Mensch besitzt so eine Gabe - Gaben, die unser Umfeld dringend braucht. Und eine der mächtigsten dieser Gaben ist eben die der Dankbarkeit.
So formulierte es auch der große französische Schriftsteller Jean de la Bruyère (1645 - 1696):
„Es gibt auf der Welt kaum einen schöneren Exzess als den an Dankbarkeit“.
Coachingimpuls:
Die Fähigkeit, dankbar sein zu können, gehört zu den wertvollsten Geschenken, die man sich vorstellen kann. Überreiche dir doch einfach selbst dieses Geschenk. Wie? Indem du an deiner Fähigkeit zur Dankbarkeit arbeitest! :) Das lohnt sich - denn Dankbarkeit ist ein wahrer Glücksbringer.
Überlege dir jeden Abend, was dir am heutigen Tag alles Gutes und Schönes passiert ist. Nimm dir einen Moment Zeit, um dieses Erlebnis wertzuschätzen und dich dafür zu bedanken. Mache dieses Gedankenexperiment zu deinem täglichen Ritual.
In diesem Sinne,
Ihre Tina
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TINAs ART&weise lädt Sie ein, dies gemeinsam in einer inspirierenden Mittagspause durchzuführen!
Anmeldung zur Mittagspause am Donnerstag, den 24.11.2022 von 12.00-12.30 Uhr hier.
Ich freue mich wie immer auf viele InteressentInnen und inspirierenden Impulse.
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Quellen
tinaringe . sossusvlei. 50x120 . 2019
Wilhelm Schmid Glück. Alles, was sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Insel Verlag
Wilhelm Schmid https//rotary.de/gesellschaft/was-ist-glueck
Robin Wall Kimmerer, Die Grammatik der Lebendigkeit, Dankbarkeit, S. 8ff., w_orten&meer